Wohnen im Heuschober.

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Thomas Drexel
Foto: Thomas Drexel

In den Dörfern und auf dem Land insgesamt gibt es einen weitgehend ungehobenen Schatz: nach Aufgabe der Landwirtschaft leer stehende Scheunen und Ställe, die ungeahntes Potenzial als Wohnraum bieten. Das im Schweizerischen Graubünden gelegene, vom Architekten Ivano Iseppi geplante Haus ist ein herausragendes Beispiel für die gelungene Umnutzung historischer Wirtschaftsgebäude.

In Deutschland, Österreich und der Schweiz kommt es seit vielen Jahren zur Aufgabe bäuerlicher Betriebe, in deren Folge auch die Scheunen und Ställe ihre Funktionen verlieren und bestenfalls als Lagerräume oder Garagen dienen. Gleichzeitig entstehen daneben oder auf der grünen Wiese Neubauten, die oft nicht ein Mindestmaß an baulicher Qualität besitzen – ganz zu schweigen von Atmosphäre und Ausstrahlung, wie sie viele historische Nutzbauten in reichem Maße mitbringen. Hinzu kommt der Vorteil, dass hier oft große Volumina zur Verfügung stehen, die ohne größere Einschränkungen ausgebaut werden können. Ja, es besteht sogar die Möglichkeit, nach dem Haus-in-Haus-Prinzip energetisch entkoppelte Wohngebäude in den sanierten Altbestand einzustellen. Somit ist auch das Erreichen zeitgemäßer Energiestandards bei der Umnutzung von Scheunen und Ställen kein Problem.

Offenheit und Geschlossenheit

Auf über 1000 Metern über dem Meer am Rand eines kleinen Graubündner Bergdorfs gelegen, fristete die aufgegebene Scheune lange Jahre ein Schattendasein zwischen möglichem Verfall und Abriss. Der heutige, aus dem Ort stammende Eigentümer konnte dies nicht länger mit ansehen, erkannte das darin schlummernde Potenzial und erwarb das Anwesen. Mit der Sanierungs- und Umbauplanung beauftragte man den Architekten Ivano Iseppi aus Thusis, der sich in der Region großes Renommee für seine Neu- und Umbauten erworben hat. Sein Grundkonzept bestand darin, die alte Blockbohlenstruktur soweit als möglich zu erhalten, sie aber auf den wichtigen, zur Sonne ausgerichteten Süd- und Westseiten auf der Ebene des Eingangsgeschosses gezielt zu öffnen, während ansonsten die Fassaden nur partiell angepasst wurden. Der Scheunencharakter blieb auf diese Weise nachvollziehbar und auch im Innenraum perfekt erlebbar, während gleichzeitig für eine optimale Belichtung der wichtigen Bereiche Kochen, Essen und Wohnen sowie des Eingangs- und Erschließungsbereichs gesorgt ist. Eine Panoramaverglasung inszeniert den Ausblick auf die direkt anschließenden Wiesen und Berghänge im Westen als realistisches Landschaftsgemälde. Anders als die zur Sonne geöffneten gemeinsamen Räume ist das nach Osten orientierte Elternschlafzimmer bewusst introvertiert und natürlich gestaltet. Die bewahrten Blockbohlen bilden einen lamellenartigen Schirm, der die Sonnenstrahlen filtert und eine angenehm gedämpfte, genau zu der Nutzung passende Lichtstimmung erzeugt.

Badewanne mit Logenblick

Während der etwas abgenutzte Begriff Wellness oft mehr im Munde geführt als umgesetzt wird, kann beim völlig neu geschaffenen Badezimmer der früheren Scheune von einem tatsächlich außergewöhnlichen Wohlfühlerlebnis gesprochen werden. Neben einer boxenartig eingestellten Sauna beherbergt der Raum mit seinem neu geölten Bohlenbretterbelag aus Wiederverwendung auch einen wunderbaren Doppelwaschplatz inklusive in die Wand eingebauter Spiegelschränke. Zum einteiligen Fenster hin steigt man über vier Stufen hinauf zur versenkt eingebauten Badewanne, in der liegend die Familienmitglieder einen grandiosen Ausblick in die Landschaft genießen.

Altes belassen, Neues zeigen

Wie im Inneren, so hat man auch im Äußeren darauf Wert gelegt, auf die bäuerliche Nutzungsgeschichte verweisende Bauteile soweit als möglich zu erhalten; dies bezieht sich nicht nur auf die Massivholzstruktur selbst, sondern auch auf Elemente wie den vormals zur Belüftung des Heus eingesetzten Propeller, der heute noch in der Blockbohlenwand der Nordseite eingebaut ist. Gleichzeitig weisen die neuen Bauteile, namentlich die Außenwände aus rot eingefärbtem Beton, sehr deutlich auf ihre heutige Entstehungszeit hin. Gerade durch die direkte Gegenüberstellung von Alt und Neu entstand hier ein ungemein spannendes, kohärentes Ganzes – zur Nachahmung auch in anderen Regionen wärmstens empfohlen! Foto: Thomas Drexel

Umbau-Daten
Standort: Kanton Graubünden/Schweiz
Baujahr: 19. Jahrhundert
Wohnfläche gesamt: ca. 280 m²
Bruttorauminhalt (BRI): ca. 1.200 m³
Baustoff, konstruktiv u. Fassade: Beton/massives Mauerwerk, Massivholz
Dach: Satteldach
Architekt: Ivano Iseppi, Cäsar, Postfach 20, 7430 Thusis/Schweiz,
Tel.: 00 41/(0)81-6 51 04 40;
www.iseppi-urbanplus.ch